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Kriegsenkel

Der lange, oft unerkannte Schatten – wie Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs bis heute in Konflikten mitwirken | Newsletter 2/2013

Eine ältere Dame (76) ist verzweifelt. Seit vielen Jahren hat ihre Tochter (48) kaum noch Kontakt zu ihr, auch das Verhältnis zu ihrem Sohn (44) ist unterkühlt. Wenn sie ihre Kinder einladen will, winken die meist ab, nur zu Geburtstagen und manchmal zu Weihnachten kommen sie, eher aus einem Pflichtgefühl heraus. Die Situation eskaliert, weil die Mutter nun wenigstens ihr Enkelkind regelmäßig sehen möchte, ihre Tochter ist dagegen. Ein simpler Generationenkonflikt? Vielleicht.

Ein Journalist (39) fühlt sich isoliert und ist oft niedergeschlagen. Trotz guter Arbeit hat er Mühe, sich durchzusetzen. Er ist seit Jahren ungewollt Single, hat keine Kinder und nur wenig Freunde. Seine wenige Freizeit verbringt er beim Schachspielen. Dies schätzt er insbesondere deshalb, weil niemand in seinen Raum dringt. Seine alten Eltern sind inzwischen ziemlich krank. Sie erwarten vom Sohn, dass er wieder ins Ruhrgebiet zieht und ihnen hilft. Ein übliches Problem der mittleren Generation? Wäre möglich.

Und doch kann es auch ganz anders sein. Denn nicht selten schlummert hinter scheinbar normalen Konflikten eine zweite Dimension, eine verborgene Hintergrundfolie, die unsere Gesellschaft und viele Einzelne noch immer prägt: Der lange Schatten des zweiten Weltkriegs mit seinen psychischen Spätfolgen

In den beiden erwähnten Fällen zeigten sich die Spuren des Krieges deutlich:
Die alte Mutter hat als Kind Bomben und Flucht erlebt, musste als Neunjährige mit ansehen, wie ihre damals 17jährige Schwester jede Nacht von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Auch als die Mutter erwachsen war, konnte sie nie darüber sprechen, sie und ihr Mann waren gefühlsarm und sehr sparsam. Ihre Kinder nehmen den Eltern übel, dass sie so knapp gehalten wurden. Eigentlich aber leiden die Kinder bis heute darunter, dass beide Eltern ihnen emotional immer weit entfernt vorkamen, Kuscheln und wirkliche Nähe haben sie fast nie erlebt.

Der Journalist stammt aus einer Bergarbeiter-Familie im Ruhrgebiet. Seine Eltern waren als Kinder beide von ihren aus dem Krieg heimgekehrten Vätern schwer misshandelt worden. Er hat keine Geschwister, in seiner Kindheit wurde auch er viel geschlagen, ein eigenes Zimmer hatte er nie. Nach dem Abitur ging er zum Journalistik-Studium nach Berlin. Trotz innerer Blockaden mag er seinen Beruf und ist stolz auf das, was er erreicht hat. Er möchte sein Leben in Berlin nicht aufgeben, und fühlt eine deutliche Abwehr in sich, wieder ins Ruhrgebiet zurück zu gehen. Gleichzeitig quält ihn das schlechte Gewissen, seine innere Stimme sagt ihm immer wieder Sätze wie „Sie haben es so schwer gehabt“ oder „Es sind doch meine Eltern“.

Die Spätfolgen des Krieges sind lange nicht wahrgenommen worden, vor allem aus politischen Gründen. Erst seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die klinische Forschung systematisch der ehemaligen Kriegskinder angenommen. Die Ergebnisse waren eindeutig und verheerend: Rund 9 % der Deutschen, die als Kinder den Krieg erleben mussten, waren noch Jahrzehnte nach Kriegsende so traumatisiert, dass sie psychisch krank waren. Zum Vergleich: In der Schweiz, ein Land ohne Kriegsvergangenheit, waren dies in der vergleichbaren Altersgruppe gerade einmal 0,7 Prozent. Zusätzlich waren ungefähr 25% in ihrer Lebensqualität deutlich eingeschränkt - z.B. durch Depressionen und Angststörungen, Süchte, unerklärliche Rücken- oder Kopfschmerzen, Kontakt- und Gefühlsstörungen und ein extremes Sicherheitsbedürfnis. Diese Zahlen dürften sich seit der Jahrtausendwende kaum verändert haben. Insgesamt hat also bis heute rund ein Drittel der ehemaligen Kriegskinder typische Anzeichen von Traumatisierungen.

Besonders tückisch ist, dass Traumata keinesfalls automatisch mit den betroffenen Menschen „aussterben“. Ganz im Gegenteil: Unverarbeitete Traumata übertragen sich häufig in die nächste Generation. Denn oft haben die Kinder die „Macken“ ihrer traumatisierten Eltern unbewusst selbst verinnerlicht – z.B. ein übersteigertes Bedürfnis nach Sicherheit, Wurzellosigkeit und Sprunghaftigkeit, Neigung zu cholerischen oder panischen Anfällen, Benutzen Anderer für die eigenen Bedürfnisse, Gefühls- und Berührungsarmut oder chronische Freudlosigkeit. Auch andere Übertragungswege gibt es: direkte oder indirekte Erziehungsprinzipien, unbewusste Botschaften und Resonanzmechanismen über die „Spiegelneuronen“. Inzwischen weiß man, dass sich bei Traumatisierungen sogar die DNA verändern kann.

Vor allem aber hat ein nicht geringer Teil der bis ca. 1980 Geborenen in ihrer Kindheit nur wenig emotionale Grundsicherheit, selbstlose Liebe, körperliche Nähe und Geborgenheit und reife Begleitung bekommen - Dinge, die ein Kind für eine gesunde Entwicklung nun einmal braucht. Die Folge: Auch viele Menschen, die weit nach dem Krieg geboren worden sind, haben nicht selten die gleichen Symptome wie ihre Eltern. Die Forschung nennt sie deshalb die „Kriegs-Enkel“. Nachkommen von Flüchtlingsfamilien scheinen besonders gefährdet gewesen zu sein.

Was bedeutet das nun für beratende Berufe?

Der Krieg steckt in uns, ob wir es wollen oder nicht. Nicht bei jedem und nicht bei jedem gleich stark. Aber es ist immer möglich, dass diese Dimension eine versteckte und dadurch umso einflussreichere Rolle spielt. Ist man als Berater/Beraterin also mit dem Thema vertraut und kann typische Symptome einordnen, versteckte Botschaften entschlüsseln und verdeckte oder unbewusste Problemlagen erkennen, kann man deutlich bessere Ergebnisse erzielen:

(Elena Griepentrog)