Meine Geschichte - Deine Geschichte
Wie wir uns unsere Konflikte unterschiedlich erzählen können | Newsletter 3/2022
Keine Atempause Geschichte wird gemacht Es geht voran! Fehlfarben, 1980
Vor einiger Zeit saß ich mit einem Freund zusammen, den ich schon seit der 5. Klasse kenne. Bis wir ungefähr 25 waren, haben wir uns so gut wie jeden Tag gesehen. Erst in der Schule, danach abends beim Weggehen oder in der Uni. Dass wir uns heute weniger sehen, liegt nicht daran, dass wir uns nicht mehr mögen, es ist einfach das Leben, in dem halt so jeder lebt.
Als wir also zusammensaßen, kam das Gespräch auf eine gemeinsame Reise nach Berlin, die wir mit Mitte 20 gemacht haben. Und es stellte sich heraus, dass wir Verschiedenes unterschiedlich in Erinnerung haben. Da auch unsere Partnerinnen mit am Tisch saßen, hatten sie einige Geschichten schon gehört. Nur eben nur aus der Perspektive von ihm oder mir und die waren halt unterschiedlich.
Nun sind wir beide gut befreundet und fanden es eher interessant oder witzig, dass wir bestimmte Gegebenheiten unterschiedlich erinnern. Das Gleiche passiert aber auch in Konfliktsituationen, nur hat es da andere Auswirkungen.
Im Reich der Sprache
Menschen sind Wesen im Reich der Sprache. Fortwährend erzählen wir uns und anderen unser Leben, wie wir Situationen erlebt haben, wie wir andere finden usw. und geben dem, was wir erlebt haben, damit einen Sinn. Und beim Erzählen werden unsere Geschichten immer besser. Unangenehmes erzählen wir weniger deutlich oder lassen es weg, für uns Schmeichelhaftes etwas klarer, bestimmte Fakten betonen wir, andere lassen wir beiseite. Wenn wir Freunden von Begebenheit oder einem Konflikt das erste Mal berichten, ist dieser oft noch sehr nah am Erlebnis und wir bekommen zum Teil kritische Rückfragen. Mit der Zeit werden wir aber „besser“. Wir nutzen die Reaktionen und sorgen über kleine Anpassungen dafür, dass wir das bekommen, was wir uns wünschen.
Menschen wünschen sich verstanden zu werden und erhoffen sich Empathie und Verständnis für das eigene Handeln. Nun ist es aber so, dass wir insbesondere im Konflikt nicht immer unsere Schokoladenseite zeigen, sondern auch Dinge tun oder sagen, die mit unserem Selbstbild und dem Bild, welches wir gerne von uns vermitteln möchten, nicht immer kongruent ist. In unseren Erzählungen glätten wir unsere Handlungen, lassen sie in einem besseren Licht erscheinen und betonen die „falschen“ der anderen stärker. Nicht dass wir lügen würden, eher betonen wir manches mehr, lassen Kleinigkeiten weg usw. und schaffen damit Rechtfertigungen für unser eigenes Handeln.
Wir erzählen aber nicht nur anderen unser Leben und damit auch Konflikte, sondern auch uns selbst. Mit der Zeit glauben wir selbst uns unsere Version der Geschichte. Im Nachhinein hört sich alles immer ganz logisch und zwangs¬läufig an, was in der Realität noch kontingent war.
„Wenn wir also von Wahrheit sprechen (…), so handelt es sich um eine Konstruktion, von der wir vergessen haben, dass wir selbst ihre Architekten sind.“ (Heinz von Förster1)
Ein Konflikt, zwei Geschichten
Harald Pühl definiert Konflikt als einen Zustand, in dem unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse und Wünsche nicht mehr verhandelt werden können, weil die Kommunikation zwischen den Beteiligten gestört ist 2. Das erleben wir in unseren Mediationen, wie auch in unseren eigenen Konflikten ständig.
Wenn es aber stimmt, was ich oben geschrieben habe, dass wir uns unsere eigene Geschichte machen, dann bedeutet das auch, dass wir, wenn die Kommunikation gestört ist oder gar abgebrochen ist, mit dem anderen, der Konfliktpartner:in, nicht mehr in den Abgleich unserer Geschichten, unserer Wahrheiten über die Situation gehen können oder wollen.
Konflikte entstehen in der Regel mit Personen, die uns nah sind. Entweder weil wir ein Paar sind, befreundet sind, wir zusammen arbeiten oder benachbart sind. In dieser Nähe besteht ein dichtes Gewebe von Interaktionen, kurzen oder langen Gesprächen, in denen immer wieder ein wechselseitiger Abgleich des Erlebten stattfindet. Konflikte stören diese Interaktionen oder lassen uns diese einstellen. Ich rede mit meinen Freunden über das was passiert ist, der andere mit seinen. Und ohne dass wir es gewollt haben, entstehen die unterschiedlichen Wahrheiten der Situation.
Manchmal sitze ich in der Mediation, höre den Konfliktparteien zu, wie sie eine Begebenheit berichten und kann kaum glauben, dass es sich um dieselbe Situation handeln soll. So un¬terschiedlich ist das Erlebte, oder besser: das was sich die Parteien darüber (selbst) erzählen. Und beide haben Recht. Zumindest gilt es das von unserer mediatorischen Seite aus an-zuerkennen, denn es handelt sich, sofern die Parteien nicht einfach lügen, um zwei gültige Konstruktionen der Vergangenheit.
Wazlawik hat eine hierfür eine hilfreiche Unterscheidung angeboten, er spricht von verschiedenen Wirklichkeitskategorien. Die „Wirklichkeit erster Ordnung“ sind die unbezweifelbaren Abläufe und Wahrnehmungen, die im Grunde nicht diskutierbar sind. Die Wirklichkeit zweiter Ordnung hingegen entsteht im Akt des Interpretierens. Hier handelt es sich um eine subjektive Wirklichkeit, die sich aus der individuellen Wahrnehmung, Vorerfahrungen, Sozialisation etc. erst bildet.3
Für die Konfliktparteien ist das manchmal schwer auszuhalten. Über unsere Erzählungen unseres Lebens versuchen wir dem, was wir erlebt haben, einen Sinn zu geben oder es zumindest verstehbar zu machen. Und die Momente, in denen dies in Frage gestellt wird, erschüttern uns im wahrsten Sinn des Wortes. Unsere Konstruktion gerät ins Wanken. Nicht umsonst sagen wir, dass etwas uns den Boden unter den Füßen wegzieht.
Mir scheint, dass in der Mediation zum einen darum gerungen wird, welche Elemente der Erzählungen tatsächlich der Wirklichkeit erster Ordnung zugeordnet werden können und damit unstrittig sind. Vor allem aber scheint es den Konfliktparteien um die Deutungshoheit der Wirklichkeit zweiter Ordnung zu gehen, indem jede:r versucht, die eigene Erzählung zur Wirklichkeit erster Ordnung zu erheben, was wiederum zur Eskalation führt.
Konfliktgeschichten verbinden
Je länger wir mit der Klärung eines Konfliktes warten, je weniger wir miteinander im Austausch sind, umso eher neigen wir zum Bauen unserer eigenen Wahrheiten. Solange wir uns in einer akuten Konfliktdynamik befinden, gibt es – bei allem Ärger über den oder die andere – immerhin noch ein Korrektiv. Immer wieder gibt es Ereignisse, die uns zumindest die Chance geben, unsere Wahrheit zweiter Ordnung der Situation zu hinterfragen.
Mediation kann einen Raum herstellen, in dem die Wahrheiten des anderen zumindest hörbar werden und wenn es gut läuft eine Annäherung stattfinden. Ehrlicherweise gelingt das nicht immer und den Parteien ist ein Perspektivwechsel in diesem Sinne nicht zugänglich. Das muss aber nicht bedeuten, dass sie keine Lösungen für ihren Konflikt gefunden haben. Nur fühlen sich die Lösungen dann halt nur pragmatisch an. Das muss nicht schlecht sein, denn immerhin beruhigen sie die Situation, wenn die Menschen wissen, wie sie weiterarbeiten können oder wissen, wer die Kin¬der wann betreut. Je detaillierter die Lösungen sind, umso weniger müssen die Parteien nach der Mediation weiter im Austausch sein. So wenigstens häufig deren Intension.
Trotzdem ist das dann eine Situation, in der die Konfliktparteien damit umgehen müssen, dass die Geschichten sich (noch) nicht miteinander versöhnen lassen, dass es möglichlicherweise dafür noch Zeit braucht und diese Erkenntnis in die eigene Wirklichkeitskonstruktion eingewoben werden muss, ohne dass es ständig schmerzt. Vielleicht wäre es eine Chance für sie – ausgehend von der Beruhigung des akuten Konflikts, viel später noch einmal ins Gespräch zu gehen.
Ich denke da an etwas wie einen Spaziergang. Jede:r erzählt einfach nur seine Wahrheit und der andere hört einfach zu. Und das, ohne zu versuchen, den anderen von der eigenen Wahrheit, der eigenen Version der Geschichte zu überzeugen. Über die Zeit kann es so gelingen, kleine Risse in der eigenen Erzählung zuzulassen, und so beide Sichtweisen wieder mehr zu integrieren.
Nachbemerkung 1
Kennen Sie das auch: Sie haben im Leben allerhand unterschiedliche Dinge getan. Mit behinderten Menschen gearbeitet, ein Mathestudium angefangen und abgebrochen, etwas anderes studiert, einen Job gemacht, der keinen Spaß gemacht hat, vielleicht gab es noch ein paar weitere Zwischenschritte, und machen nun das was sie wirklich mögen? Irgendwie scheint das alles nicht so recht zusammen zu passen, aber wenn Sie es oft genug erzählen, wird es ein am Ende wirklich spannender Lebenslauf in dem alles – und es hört sich auch irgendwie logisch an- gerade auf das zuläuft, was Sie gerade machen. Großartig, wie Sie das geschafft haben!
Nachbemerkung 2
„Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht´s mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ‚Behalten Sie Ihren Hammer‘“ 4
1) Schlieper-Damrich, Ralph / Netzwerk CoachPro (Hrsg.): Krisencoaching. Bonn 2013, S 19. 2) Harald Pühl: Konfliktklärung in Teams und Organisationen. Berlin 2010, S. 16. 3) https://www.paulwatzlawick-institut.at/konstruktivismus-als-lebens-philosophie/ abgerufen am 8.08.2022 4) Paul Watzlawik: Anleitung zum Unglücklich sein. München 1983, S. 37.